Einmal Tränen, bitte! Warum die Kita-Eingewöhnung komplett anders läuft als geplant

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Kaffee, Computer, und ein nicht bimmelndes Handy: Mit diesem Setting entstand der 13. Brief an Euch

Liebe Zwillis,

ich sitze an unserem großen Esstisch, vor mir der Laptop, rechts ein noch dampfender Latte Macchiato, links mein Handy, das nicht klingelt, auch wenn ich noch so oft hinschiele. Ich sollte mich entspannen. Und einen lockerflockigen Blogeintrag schreiben, zum ersten Mal habe ich richtig Zeit dafür und mache das weder zwischen Tür und Angel noch auf Spielplatz oder den letzten Drücker.

Aber mir ist nicht nach lockerflockig. Heute ist Euer fünfter Kita-Tag. Und irgendwie läuft das mit der Eingewöhnung komplett anders, als ich mir das so vorgestellt hatte.

Ich dachte: wir machen das brav nach dem so genannten „Berliner Modell“. Beim ersten Elternabend gab’s Handzettel dazu, und ich fand den Plan sympathisch, denn da stand: In Woche 1 darf ich mit Euch zusammen hin. Wir bleiben eine Stunde lang – und gehen wieder nach Hause. In Woche 2 verabschiede ich mich für fünf bis zehn Minuten, warte auf dem Flur. In Woche 3 bleibt Ihr erstmals alleine zum Mittagessen, und in Woche 4 dann auch zum Mittagsschlaf.

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Die Eingewöhnung in der Theorie: Diesen Handzettel gab’s beim Elternabend. Dass die Praxis drei Mal so flott gehen kann, sagte keiner

Aber das Berliner Modell interessiert Euch offenbar nicht die Bohne. Die erste Woche ist noch nicht mal ganz vorbei, und wir sind laut Plan bereits kurz vor Woche 4 – es scheint, als wärt Ihr bereits, wie eine Freundin aus München so schön sagt: „eingekrippt“. Ohne Gejammer. Ohne Tränen. Ohne Abschiedsdramen.

„Ist doch super, sei doch froh“, meint Euer Papa, und ja, das könnte ich sein. Vor allem dann, wenn ich an meinen eigenen ersten Tag im Kindergarten (ich war 4 und heulte für 5) und an all die Geschichten im Bekanntenkreis denke: Euer Cousin Henri brauchte fünf Wochen für die Eingewöhnung. Freund Ferdi schrie anfangs so laut, dass sein Papa meinte, ihn selbst im 200 Meter entfernten Café noch zu hören. Und auch Kumpel Oskar weint derzeit täglich so bitterlich, dass es seiner Mama fast das Herz bricht, wenn sie die Kita verlässt.

Doch es gibt da ein paar „Abers“, die gegen Papas super und froh sein sprechen. Erstens, das werdet Ihr selbst noch merken, möchte man manchmal gern genau das haben, was man nicht hat, auch wenn es oft verrückt ist: Mir wäre gerade eine kleine Scheibe des Abschiedsschmerzes gar nicht so unrecht – meinem Mama-Ego würde das ganz gut tun! Zweitens ist da so eine These zur zu schnellen Eingewöhnung, die mir Kopfzerbrechen bereitet, später mehr dazu. Und drittens darf man sich, warnen die Erzieher, auch gar nicht zu früh freuen: denn der Hammer, der könne noch kommen.

Doch von vorn, die Details Eurer ersten Kita-Tage:

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Premiere: Zum ersten Mal klettert Ihr die Stufen zur Kita hinauf. Auf dem Rücken: Eure Kita-Taschen, ein Geschenk Eurer Patentanten

Donnerstag, Tag 1. Aufgeregt wie am ersten Schultag – also ICH. Ich dusche, kämme und creme Euch ein, krame Eure derzeit schönsten Klamotten aus dem Schrank, zaubere Euch ein extra-schönes Gesichterfrühstück, packe die Kita-Rucksäcke. Als Ihr kurz darauf mit eben diesen auf dem Rücken die Steinstufen zur Kita erklimmt, macht mein Zwillimuddi-Herz Purzelbäume. Während ich wie beschwipst vor guter Laune Eure Erzieherin begrüße, stürzt Ihr Euch bereits ins Getümmel. Alles neu hier, alles toll, Eure Augen glänzen – und ich? Bin Luft für Euch! Gut so, denke ich – noch. Ich verziehe mich in eine Ecke, erledige Kita-Schreibkram, und beobachte Euch aus der Ferne: Zusammen erkundet Ihr den Raum, klettert auf eine Wippe, schaukelt. Zieht weiter, immer Seite an Seite. Später bastelt Ihr Papier-Igel, und als ich auf die Uhr sehe, sind fast zwei Stunden rum. „Auweia, jetzt aber ab nach Hause“, sagt die Erzieherin, „am Anfang ist eine Stunde Kita für die Kleinen so anstrengend wie für uns acht Stunden auf’m Bau, das darf man nicht unterschätzen.“ 

Freitag, Tag 2. Die Nacht war kurz, und Du, Theo, bist etwas müde, als wir ankommen. Doch was zu Hause in anstrengendem Gequengel enden würde, löst sich im Kita-Garten in der frischen Herbstluft auf. Du kletterst zu Elli in die Buddelkiste, und wieder juckt es Euch kein bisschen, als ich mich entferne. Ich kann Euch laut Berliner Modell ja noch mindestens weitere drei Tage beim Spielen zusehen, rechne ich, und schreite mutig gen Gruppenraum, um weiter Unterlagen auszufüllen. Ich höre, wie die Erzieherin draußen auf dem Akkordeon zu spielen beginnt, durch die Scheibe sehe ich, wie Ihr fasziniert zuschaut und ein bisschen tanzt. Da störe ich jetzt mal nicht, entscheide ich – die Quittung gibt’s ne Stunde später: „Na wenn das so gut klappt ohne Sie, machen wir doch Montag gleich weiter, dann bleiben Sie direkt wieder so lange außer Sichtweite.“ Na Bingo: selber schuld, Zwillimuddi.

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Zu Hause sieht der Tisch nach dem Essen aus wie ein Schlachtfeld – in der Kita esst Ihr so gesittet wie nie zuvor

Montag, Tag 3. Das Wochenende hat Euch nicht vergessen lassen, wie cool Ihr Euren neuen vormittäglichen Aufenthaltsort findet: Auf dem Gang zum Gruppenraum werden Eure Schritte schneller, Ihr kennt schon die Tür, wisst, wo Ihr abbiegen müsst. Doch nicht nur Euer Gedächtnis, sondern (leider) auch das der Erzieherin ist auf Zack: „Also versuchen wir das heute doch mal, Sie können sich in die Garderobe setzen“, sagt sie, „und dann so in eineinhalb Stunden wieder kommen.“ Äh, was? Eineinhalb Stunden? An Tag 3? Hilfe! Ich versuche, cool zu bleiben, obwohl ich mich spontan um den Vier-Wochen-Plan im Berliner Modell betrogen fühle. Kurzerhand setze ich auf eine kleine Schummel-Nummer: ich müsse ja die Fragebögen in den Sprachlerntagebüchern noch zu Ende ausfüllen… So ergattere ich wieder meinen Platz im Gruppenraum statt in der Garderobe. Und sehe Euch erneut durch die große Fensterscheibe. Theo, Du fegst mit einem kleinen Besen die Terrasse. Elli, Du spielst im Sand. Und als später alle reinkommen und an den kleinen Tischen Platz nehmen, macht Ihr einfach mit, bleibt spontan zum Mittagessen. Und löffelt (nahezu alleine!) Nudeln, als hättet Ihr nie etwas anderes getan.

Dienstag, Tag 4. Endlich mal pünktlich! Also naja, fast. Heute nur fünf Minuten Zeitverzug, damit haben wir unsere Verspätungsdauer seit Tag 1 um täglich rund 30 Prozent reduziert („In der Eingewöhnung sind wir da noch etwas großzügiger“, sagen die Erzieherinnen, „und bei Zwillingsmamas sowieso“ – danke.). Kurz nach Betreten des Raumes merke ich: ups, Mützen vergessen. Und beschließe, es jetzt mal so richtig wissen zu wollen. Wir sind noch keine zwei Minuten da. Wenn ich JETZT wieder gehe, um die Mützen zu holen, MUSS Euch das ja stören. Also: Wenn Ihr mir bitte zumindest traurig hinterher gucken könntet? Mmmh: Theo, Du gähnst genüsslich, Elli, Du sortierst konzentriert Kastanien. Dann eben nicht… Mützen geholt, verabschiedet, nach Haus gegangen. Dort überfordert mit all der Zeit. Was mache ich zuerst? Endlich mal die Tauf-Dankeskarten fertig schreiben? Mal eben Wäsche waschen? Erst die Spülmaschine ausräumen? Oder einfach kurz die Zeitung lesen? Alles mal schnell ein bisschen. Nichts davon vollendet ist die Zeit bereits rum: Ich hole Euch ab.

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So, und was steht heute an? Von Zurückhaltung auch an Tag 5 keine Spur

Mittwoch, Tag 5. Eure Oma ist zu Besuch, und kommt heute mit, wir bringen Euch gemeinsam. Vielleicht ist ja DANN der Abschied schwerer, weil doppeltgemoppelt? Nö. Nach zehn Minuten verlassen wir die Kita, und jetzt sitze ich hier am Rechner, während Eure Oma einkauft. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit habe ich die Musikanlage aufgedreht, und sang gerade sehr, sehr laut Adels „Chasing Pavements“ mit, als ich mir einen zweiten Kaffee kochte. Die (wirklich tolle) Erzieherin hat mir bereits drei Videos per Whatsapp geschickt: sie zeigen, wie Ihr auf dem Matratzenstapel turnt, Holzformen durch die Motorikschleife bewegt, und den großen Spiegelkreisel dreht. Es geht Euch bestens, mehr als offensichtlich.

Also jetzt nochmal nüchtern betrachtet. Hat Euer Papa vielleicht doch ein bisschen Recht?

Kurze Auseinandersetzung mit der oben bereits erwähnten (Kopfzerbrechungs-)These, auf die sich im Bekanntenkreis vor allem die Mamas berufen, bei denen die Kita-Eingewöhnung eher schleppend läuft: Das, sagen sie, sei der Ausdruck einer besonders starken Mutter-Kind-Bindung. Es sei doch ein gutes Zeichen, dass der Abschied schwer falle, der erste echte Liebesbeweis der Kinder sozusagen. Bedeutet es im Umkehrschluss also, dass ich in Eurem ersten Lebensjahr irgendetwas falsch gemacht habe?

Anruf bei Eurer Tante Anni, die sich auskennt, weil sie Fragen wie solche studiert hat und bereits an etlichen Kitas, Schulen und sozialen Einrichtungen gearbeitet hat. „Dreh den Spieß doch mal um und versuche es genau anders rum zu sehen“, sagt sie, „Deine Kinder haben ein so gutes Urvertrauen und wissen, dass Du sie wieder abholst und dass sie keine Angst haben müssen. Das beweist meiner Meinung nach eine mindestens ebenso gute Mutter-Kind-Bindung.“

Sie erklärt mir spannende Fakten von vier verschiedenen Bindungstypen, die Details würden an dieser Stelle zu weit führen. Wir überlegen auch, ob es eine Rolle spielen kann, dass wir so früh damit angefangen haben, Babysitterin Cathleen regelmäßig einzuspannen. Am Ende aber betont Eure Tante: „Ich glaube, die Zwillis machen das hauptsächlich deshalb so gut mit, weil sie zu zweit sind. Ich meine: sie kennen sich länger als sie Dich kennen, der jeweils andere ist ihre Hauptperson. Und deshalb fühlen sie sich vermutlich einfach nicht alleine in der Kita.“

***

12 Uhr, kurz nach dem Abholen. Als Eure Oma und ich gerade den Raum betraten, saßt Ihr noch an dem kleinen Tisch in der Ecke und löffeltet Reis mit Fisch und Gemüse. Wir hielten uns zurück, beobachteten Euch ein paar Minuten und mussten lachen: es sah zum Piepen aus, Ihr zwei an diesem Tisch – wie ein altes Ehepaar, das stillschweigend das Mittagessen verdrückt, weil ja alles gesagt ist. Dann saht Ihr mich. Euer Grinsen: unbezahlbar.

Anschließend kurze Reflexion mit den Erziehern: Ihr macht das super, sagen sie. Doch seit gestern begreift Ihr anscheinend, was Sache ist. Elli, Du liefst wohl irgendwann fragend zur Tür, durch die ich verschwunden war, und begannst kurz zu meckern. Und auch Du Theo, hast tatsächlich nach Deinem herzhaften Gähner (und deshalb für mich nicht sichtbar) ein paar Tränchen verdrückt (geht doch ;-)). Aber Ihr ließt Euch beide schnell ablenken und beruhigen. Und so ist das wohl nicht der Hammer, auf den ich wartete, sondern vielleicht eher eine Art Schraubenzieher: es dreht sich was in Euren Köpfen, Ihr versteht das Prinzip Kita. Gut so!

Als wir nach Hause kamen, nahmt Ihr Euch die Mützen vom Kopf, zeigtet auf Eure Schuhe, mit einem eindeutigen „Bitte-Ausziehen-Aufforderungsblick“ – und ich fand: unfassbar, wie „erwachsen“ Ihr in dieser einen Woche geworden seid. So cool. So selbstständig. So groß!

Soll ich Euch was sagen: Das mit meinem Mama-Ego geht schon in Ordnung. Ich bin unfassbar stolz auf Euch! Und je mehr ich darüber nachdenke, desto lockerflockiger ist mir wieder zumute. Morgen gönn‘ ich mir ’ne Pediküre, wenn Ihr in der Kita seid. Und schiele mindestens drei Mal weniger auf’s Handy – versprochen.

Ich liebe Euch, Ihr tollen Kita-Kinder!

Eure Zwillimuddi


3 Gedanken zu “Einmal Tränen, bitte! Warum die Kita-Eingewöhnung komplett anders läuft als geplant

  1. Ach, Claudi, wie immer lesenswert, dein Blog! Hat mich an unsere Eingewöhnungszeiten vor 22 und 17 Jahren erinnert! Moritz mit einer offensichtlich etwas extremen Mutter-Kind- Bindung(!) hat geschrien wir abgestochen, die Erzieherin hat eigene Wecker gestellt, wenn dieser klingelt und es immer noch so weh und er solche Sehnuscht nach Mama hätte, würde sie mich anrufen! Der Wecker hat nie geklingelt, weil sie ihn immer weiter gestellt hat, und nach zwei Tagen hat es ihn nicht mehr interessiert. Charlotte hingegen mit einer völlig anderen Mutter- Kind-Beziehung(?) hat sich zu mir umgedreht am ersten Tag, sagte : “ Thüss, Mama, nicht traurig sein!“ , weil ich Tränen in den Augen hatte!
    Was sagt das jetzt über unsere Beziehung aus?😘

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    1. Liebe Heike, danke für Deinen Kommentar! Witzig, bei uns scheint sich auch herauszukristallisieren, dass Elli lockerer mit Abschiedssituationen umgeht, vielleicht sind Jungs einfach etwas anhänglicher? ;-) Ganz liebe Grüße in die Ferne! Claudi

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  2. Liebe Claudi!
    Danke vielmals für deinen zwar schon etwas älteren, für mich aber brandaktuellen Blogeintrag, den ich über meine Google-Suche „Kindergarteneingewöhnung zu flott?“ gefunden habe. Mir geht es mit meiner Tochter gerade ganz genauso und ich fühl mich genauso verloren wie du an den ersten freien Vormittagen (mit denen man doch erst in ein paar Wochen gerechnet hat?!?!). Beruhigt mich sehr, dass ich nicht allein damit bin. :o) Und ich hoffe sehr, dass es auch langfristig so gut geklappt hat im Kindergarten! Liebe Grüße aus Wien, Birgit

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