Liebe Elli, lieber Theo,
es ist inzwischen eine komplett absurde Vorstellung – aber heute vor einer Woche haben wir tatsächlich noch am Strand in der Sonne gesessen, mit Opa Sandburgen gebaut und zwischendurch die Füße im Atlantik gekühlt. Jetzt, keine 200 Stunden später, ist die Welt eine komplett andere.

Seit sechs Tagen igeln wir uns, wie nahezu alle in diesem Land, ein – und verlassen das Haus nur noch, um ab und zu mal frische Luft im Wald zu schnappen oder um nachzusehen, ob es DOCH endlich wieder Klopapier und Hefe in den leergefegten Supermarktregalen gibt. Eure Vorschule hat außerplanmäßig noch mindestens einen ganzen Monat geschlossen, und alles, wirklich ALLES, was wir in den kommenden Wochen vorgehabt hätten, wurde abgesagt. Es herrscht Ausnahmezustand, wir stecken in der größten Krise seit dem zweiten Weltkrieg, und der Grund heißt „Corinavorus“ – so nennt Ihr es jedenfalls.
Dass Ihr das „I“ und das „O“ vertauscht ist Euch ebenso wenig bewusst wie die Tatsache, dass wir uns in einer unfassbar komfortablen Situation befinden: Ich stecke zwischen zwei Jobs, habe den alten zum 31. März gekündigt und noch Resturlaub, den neuen noch nicht angefangen – und deshalb Zeit. Unsere erste Woche in freiwilliger Quarantäne begann also etwas kuscheliger als die von Tausenden Eltern, die nach den ersten Tagen im Homeoffice den Mega-Muskelkater vom Spagat zwischen Videokonferenzen und Vollzeitkinderbetreuung haben.
Trotzdem kam es gestern, mein erstes Corona-Alltags-Tief – und ließ mich erst brüllen, dann weinen. Aber von vorn, ein kurzer Überblick über diese Woche, in der wir so viel zu Hause waren wie nie zuvor:
Montag, 16. März 2020, Tag 1.

Wir schlafen aus, erholen uns von dem etwas unentspannten Ende des eigentlich so tollen Inselhopping-Urlaubs mit Eurem Opa. Auf den letzten Drücker hatten wir Sonntag mit umgebuchten Flügen Fuerteventura verlassen, weil zeitgleich in Spanien die Ausgangssperre in Kraft getreten war. Während wir (ironischerweise tatsächlich um exakt 5 vor 12) den Flieger betraten, machten am sonst so belebten Flughafen die Läden (selbst Duty Free und Burger King) die Schotten dicht – und als wir am Hamburger Airport landeten, jubelten die Passagiere, was vermutlich dieses Mal nicht am Alkohol-Konsum der Kanaren-Touris lag. An diesem Montag waschen wir also die Urlaubs-Wäscheberge weg, spielen uns einmal von oben nach unten durchs Spieleregal – und müssen tatsächlich auch einkaufen. Weil wir weg waren, ist der Kühlschrank komplett leer; und genau das möchte ich am liebsten auf ein großes Umhänge-Schild schreiben und mit einem durchgestrichenen Hamster ergänzen, als mich Menschen im Supermarkt vorwurfsvoll wegen des etwas volleren Einkaufswagen anschauen.
Dienstag, 17. März 2020, Tag 2.

Heute nochmal Freestyle-Tag: Ihr gebt die weltsüßeste Vorstellung im „Zirkus Elli & Theo“, anschließend läuft Euer neuer Lieblingssong „A-E-I-O-U“ in Dauerschleife (künftige I und O-Verwechslungen dürften damit ausgeschlossen sein), später mischen sich noch das rote Pferd, der Gorilla mit der Sonnenbrille und das singende Känguru dazu, während die Oma im Hühnerstall Motorrad fährt, und wer die Kokosnuss geklaut hat, wissen spätestens jetzt auch alle Nachbarn, kein Quatsch mit Soße. Theo, Theo, ist fit – aber nicht nur die Regenwürmer hört man husten, sondern auch Dich, Elli, und Halsweh hast Du auch. Corona? Selbst wenn: getestet werden aktuell nur die, die Kontakt zu nachweislich Infizierten hatten oder aus Risikogebieten kommen. Und die bislang einzige Corona-Patientin, die wir kennen, ist Eure Patentante, die wir ohne Flug-Umbuchung zwar nach dem Urlaub besucht hätten, dann aber doch nicht gesehen haben. Also weiter einmuckeln und ablenken: Wir basteln – gute Mischung – Blumenwiesen und Eisbären. Kleiner Clou: Für den Eisbären braucht man, Trommelwirbel, Klopapier! Und wir scheinen die einzigen Deutschen zu sein, die tatsächlich nur noch zwei Rollen in der Vorratskammer haben. Denn es ist ausverkauft. Überall.
Mittwoch, 18. März, Tag 3.

Ab heute versuchen wir es mit ein bisschen Struktur, haben zusammen einen Plan ausgeklügelt, der jetzt am Kühlschrank klebt. Jede Stunde zwischen 9 und 19 Uhr ist mit einem Programmpunkt versehen, wir starten mit Frühstück und Bastelstunde, später folgen verschiedene Spieleinheiten, und nach dem Mittagessen eine Ausruhphase, für die Ihr unfassbarerweise freiwillig mit Dumbo-Hörspiel in Euren Zimmern verschwindet und tatsächlich erst eine ganze Stunde später wieder auftaucht. Nachmittags Mini-Radtour im zum Glück quasi hinterm Haus liegenden Wald, damit mein Gewissen zur anschließenden Netflix-Stunde beruhigt ist. Ihr LIEBT den Stundenplan, schiebt akribisch die Magnetklammer am Kühlschrank zum nächsten Slot. Mal gucken, ob das länger als zwei Tage hält.
Donnerstag, 19. März, Tag 4.

Heute Frühsport mit Alba Berlin – die geben jetzt täglich eine Online-Sportstunde für Kids, und Ihr seid hoch motiviert. Unterdessen wird unser Mitbewohner Marshi (der seinen alten Spitznamen Körni loswurde, weil Ihr ihn zwischenzeitlich nach dem Dalmatiner von Paw Patrol benanntet) zum Held des Tages: ER HAT KLOPAPIER ERGATTERT! Die teuerste Marke der Welt, dem Preis zufolge vermutlich 50-lagig und mit Cashmere-Fasern verarbeitet, aber demnach auch allemal sanfter als die Küchenrollen-Alternative. Um zusätzlich auch noch Hefe zu bekommen, hätte er vermutlich die anderen Helfer auf vier Pfoten einspannen müssen – frisch wie trocken, alles vergriffen. Ich backe also erstmals Brot ohne Hefe, und siehe da: Als es lauwarm aus dem Ofen kommt, verschlingen wir es mit Butter und Salz, weil es überraschend köstlich ist. Einen Tag später wird es mir im Halse stecken bleiben, als ich bei Facebook den Tränen-Aufruf von Bäcker Bosselmann sehe.
Freitag, 20. März, Tag 5.

Das Problem des Bäckers aus Hannover ist kein singuläres, auch bei uns im Kiez hat so ziemlich jeder Einzelhändler Existenzängste – aber sie alle lassen sich was einfallen. Die tolle Bar ums Eck liefert die köstlichsten Cocktails jetzt frei Haus, der Chef der Reinigung holt die Schmutzwäsche persönlich ab, der Buchladen bringt Bestellungen mit dem Rad vorbei. Überhaupt ist die Stimmung eine besondere. Beim Joggen (alleine natürlich und ohne Kontakt zu anderen) kamen mir diese Woche so viele Menschen entgegen, die ohne Hektik spazieren gingen, endlich mal wieder redeten. In den Esszimmern sah ich reihenweise Familien zusammen Mittagessen – an Werktagen! Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit haben viele von uns eine ganze Woche ohne auch nur einen einzigen Termin; eigentlich herrlich entschleunigend, wenn man versucht, das Beste aus der Situation zu machen.
Dann aber bringe ich Euch zu Papi, und habe auf dem Heimweg erstmals so richtig Zeit für mich nach diesen fünf actionreichen Tagen zu Hause. Im Auto höre ich wie schon in den vergangenen Tagen das Corona-Update des Charité-Chefvirologen, der mittlerweile in etwa so bekannt ist wie Chefin Angela (wie ihr die Kanzlerin nennt) und bei Insta längst Kultstatus hat („Norden Süden Osten – ich richte mich nach Drosten“), und kann mein Gedankenkarussell nicht stoppen.
Werden unsere Turnhallen in ein paar Wochen wie in Italien zu Leichenhallen umfunktioniert? Was, wenn Eure Omas und Opas infiziert werden? Und Eure Uromi erst? Wie lange werden wir sie alle jetzt nicht sehen können, um sie zu schützen? Werden die Schulen auch im Mai noch zu sein? Was heißt das dann für uns? Wie in Gottes Namen wuppe ich dann meinen neuen Job? Wird es den dann überhaupt geben?
Als ich nach Hause komme und sehe, wie sich das Geschirr in und um die Spüle stapelt, weil (ausgerechnet DIESE Woche!) nicht nur der Staubsauger seinen Geist aufgegeben hat, sondern auch die Spülmaschine, wird der Klassenclown der Fellfreunde zu meinem Ventil, denn sonst ist keiner hier, den ich beschimpfen kann. Ich motze über die Tellerstapel, meine aber all die anderen Sorgen, die mir durch den Kopf gehen, reagiere „etwas“ über. Beim Spülen später vermehrt sich auf wundersame Weise das schäumende Wasser, und ich ärgere mich über diese fetten Tränen, die da ins Becken tropfen, weil mir bewusst ist, dass diese Probleme sehr klein sind im Vergleich zu denen, die andere Menschen gerade haben. Später in der Tagesschau verkünden sie, dass es jetzt 20.000 Infizierte und 53 Tote in Deutschland gibt.
Heute ist Samstag, und nach einer Nacht mit viel Schlaf bin ich wieder etwas entspannter, nachher gehen Marshi und ich ins Museum, also virtuell (Louvre, Guggenheim und Met, das geht jetzt alles an einem einzigen Tag, wer hätte es für möglich gehalten). Sie stimmen ja, all diese acht Milliarden In-der-Krise-liegt-die-Chance-Weisheiten, die man jetzt auf diversen Kanälen geschickt bekommt: Irgendwann ist dieser Spuk vorbei, und am Ende wird das Schöne noch schöner sein, wir werden die einfachen Dinge wieder zu schätzen wissen.
Aber der Weg bis dahin scheint ein steiler zu sein.
Kommt schnell wieder nach Hause und bleibt gesund (das ist das neue Tschüss). Ich liebe Euch.
Eure Zwillimuddi