Liebe Elli, lieber Theo,
erwähnte ich schon mal, dass ich die vermutlich schlechteste Füßehochlegerin aller Zeiten bin? Irgendwas ist ja bekanntlich immer, und wenn mal nichts ist, dann sorge ich einigermaßen zuverlässig dafür, dass doch irgendetwas verhindert, dass ich endlich mal zur Ruhe komme.
Zu Beginn der Woche gab so ein Tag, da hätte es klappen können. Theoretisch jedenfalls. Es gibt ja diese Art von freien Tagen, an denen man wäscht und putzt und aufräumt und nochmal wäscht und Steuerunterlagen sortiert und einkauft und Dinge erledigt, die man längst erledigen wollte, und am Ende ist es das Gegenteil von einem freien Tag und man sehnt sich asap zurück ins Büro, weil das mit hoher Wahrscheinlichkeit entspannter wäre als dieser ganze Haushalts- und Lebens-Orga-Kram. Am vergangenen Dienstag gab es aber tatsächlich zur Abwechslung mal keine größeren Baustellen. Ich hatte Euch zur Vorschule gebracht, das gröbste Frühstücks- und Ich-mach-noch-schnell-die-Brotdosen-Chaos beseitigt, die Kaffeemaschine lief und der Milchschaum war nur noch ein paar Sekunden davor, perfekt zu werden, als mein Telefon klingelte.
„Suse“, stand da auf dem Display, und ich musste im ersten Sekundenbruchteil an Euer Klassenkuscheltier, das diesen Namen trägt, denken. Statt der schnuckeligen Schnecke meldete sich am anderen Ende meine ehemalige Nachbarin, die damals im Vorderhaus lebte, als Euer Papi und ich unsere erste gemeinsame Bude in Berlin bezogen. „Ich muss heute in Hamburg einen Vortrag halten“, sagte Suse, die nicht nur Chefin von EditionF, sondern auch ein wirklich guter Typ ist, „aber mein Zug steckt in Berlin fest, Personenschaden. Kannst Du einspringen? Um zehn geht’s los.“
Ich sah an mir herunter (Schlabberleggins/Kapuzenpulli, noch ungeduscht), dann zu den roten Zahlen der Digitaluhr des Backofens, rechnete. Es war 8.43 Uhr, zu der Location (am anderen Ende der Stadt) würde ich fünfundfünfzig Minuten fahren, Minimum. 22 Minuten blieben mir also für die Optik. 17, wenn ich mir noch fünf Minuten Gedanken zum Inhalt machen wollte. Komplett unrealistisch, dachte ich laut, begann aber bereits hektisch, mich meines Gammel-Outfits zu entledigen. „Vielleicht können wir um 30 Minuten schieben“, sagte Suse, und noch während mein Hirn mich für verrückt erklärte, hatte mein Mund bereits zugesagt. „Ich ruf Dich gleich aus dem Auto wieder an“, sagte ich, und begann im Vorspulmodus, mich fertig zu machen.

So wenig vorbereitet wie nie zuvor auf irgendetwas betrat ich also ca. 100 Minuten nach dieser ultraspontanen Anfrage dieses wirklich ziemlich hübsche Café, in dem ich nun also einen Schwank über das Thema „Vereinbarkeit“ aus meinem Muddi- und Arbeitnehmerinnen-Dasein erzählten sollte. Das Gute ist ja: Wenn man keine Zeit hat, Satzbausteine auswendig zu lernen, kann man sie in Lampenfiebermomenten auch nicht wieder vergessen – und wenn die Zeit dann sogar zu knapp für Lampenfieber ist, dann bleibt einem nicht viel übrig, als einfach man selbst zu sein und das zu erzählen, was man auch auf einer Party und/oder am Küchentisch erzählen würde. Genau das tat ich, und natürlich erfand ich mit diesem Monolog weder das Rad neu, noch erzählte ich vermutlich irgendeiner der (verdammt netten) Frauen weltbewegende Neuigkeiten. Und trotzdem fuhr ich ein paar Stunden später mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen durch unsere neue (in wunderschön-goldenes Oktober-Licht getauchte) Heimatstadt zurück – und versuchte zu analysieren, was genau mir gerade neben dieser Bilderbuchherbststimmung eigentlich so gut gefiel.
Noch bevor ich Eure Schule erreichte, war die Antwort plötzlich sehr klar. Ja-ja: Ausgerechnet ICH hatte da etwas zum Thema Vereinbarkeit erzählt – ICH, die vielleicht den Spagat zwischen Job und Euch irgendwie wuppt, dafür aber die Zeit für sich selbst, das Thema Regeneration/Auszeiten viel zu oft viel zu wenig ernst nimmt. Trotzdem hatte ich an diesem Morgen etwas getan, das mich im Kleinen an das erinnerte, das ich seit über einem Jahr – vermutlich das erste Mal in meinem Leben ernsthaft – im großen Maße tat: Ich hatte meine Komfortzone verlassen.
Es ist schon ein bisschen witzig, dass man Hundert oder gar Tausend Mal Dinge über etwas hören oder lesen kann, und es dann erst schnallt, wenn man es selbst erlebt – aber tatsächlich begriff ich erst an diesem Morgen, dass vieles von dem, was mir in den vergangenen Monaten Gutes widerfuhr, nur deshalb geschah, eben weil ich ausgebrochen war aus der berühmten Wohlfühlzone. Natürlich war ich aus dem Raum, in dem es kuschelig war, der mir jahrelang ein gutes, schützendes Gefühl gab, mitunter ein bisschen geschubst worden, natürlich hatte das Verlassen der Komfortzone teils passiv stattgefunden, und natürlich hatte es ganz schön oft ganz schön weh getan.
Aber hatten mich vielleicht genau diese Schritte an den Schmerz weiter gebracht als alles andere je zuvor?
War es nicht herrlich heilsam, nicht mehr nur im Tal zu hocken und dem Leben bloß aus nächster Nähe und manchmal leicht gelähmt zuzuschauen, sondern diesen Felsen, der in vielen Momenten unbezwingbar schien, einfach mal zu besteigen?
Tat es nicht gut, dort oben zu stehen, das alte Leben aus der Vogelperspektive zu betrachten, und endlich auch die Welt HINTER dem Berg sehen zu können, dessen Farben ich mir sonst nur hatte im Kopfkino ausmalen können? Die, in der das Gras offenbar auch in der Realität sogar noch ein bisschen grüner wächst? War es nicht wunderbar, dort oben innezuhalten, die Seele mit den Sonnenstrahlen aufzutanken, die hier oben so viel heller schienen? Und war die Gewissheit, ein so tiefes Tief hinter sich lassen zu können, nicht Gold wert für die Zukunft, wohlwissend, dass es nicht permanent bergauf gehen kann, sondern ganz sicher nach Höhen naturgemäß auch irgendwann wieder Tiefen folgen würden?
Fünf Mal ja. Keine Sorge, ich höre jetzt auf mit dem Herum-metaphern, und möchte Euch auch nicht mit diesem „Aus-Krisen-wachsen“-Phänomen belästigen, mit dem jede zweite Frauenzeitschrift alle drei Monate in einem ausführlichen Dossier um die Ecke kommt. Nur das: Wenn mich diese vergangenen eineinhalb Jahre tatsächlich eines gelehrt haben, dann ist es die Erkenntnis, dass sich vermutlich neun von zehn Schritte in neue, andere Richtungen lohnen. Damit meine ich nicht, ständig etwas Neues anzufangen und nie bei dem zu bleiben, was gut ist – sondern sich selbst treu zu bleiben und trotzdem offen zu sein, mal einen kleinen oder großen Schlenker nach rechts oder links zu gehen, auch wenn das anstrengender ist als der Weg geradeaus. Gerade diese Schlenker bringen meiner Meinung nach die wichtigen Erfahrungen (ganz gleich, ob positiv oder negativ). Sie machen es möglich, Ängste zu überwinden, Marotten abzulegen, alte Muster zu überdenken.
Obwohl ich schon wieder viel zu lang werde, möchte Euch drei schnelle weitere Beispiele aus meinem alles in allem ja eher ungewöhnlichen Jahr nennen:

-> EINS: Im Frühling ging ich mit blöden Knieschmerzen zum Orthopäden. Der schob mich in die Röhre und entschied im Anschluss: drei Monate Lauf-Verbot. Für mich brach eine kleine Welt zusammen: Ich hatte mein Läufer-Jahr doch so herrlich symbolisch geplant, war den Berlin-Halbmarathon sozusagen zum Abschied aus der Hauptstadt gelaufen, und wollte zwei Monate später zur Begrüßung in der neuen Stadt zum Hamburg-Halbmarathon mit Eurem Opa antreten. Durfte ich nicht: Ich hatte zwar nur eine harmlose Entzündung – die würde aber nur durch konsequente Schonung verschwinden, drohte der Doc. Wenn ich nicht ernsthafte Knieschäden riskieren wolle, sollte ich mich doch bitte daran halten. Ich HASSTE es, nicht laufen zu können. ABER: Auch hier verließ ich die Komfortzone. Ich war gezwungen, etwas anderes zu tun als das, was ich jahrelang gewöhnt war, was mir so zuverlässig wie nichts anderes einen klaren Kopf brachte. Ich testete mich, zunächst betont gelangweilt, durch ein paar Fitnesskurse und Sportvereine – und entdeckte am Ende drei SEHR tolle Alternativen zum Laufen. Erstens: Jumping (nie so geschwitzt!). Zweitens: Hicycle (wie mein liebstes Radel-Studio in Berlin, nur noch bisschen schicker). Drittens (kein Scherz): meine ca. 20 Jahre alten Rollerskates (die ja gewissermaßen beweisen, dass auch die Rückkehr in alte Komfortzonen irgendwann wieder klargeht). Ach, und ganz nebenbei habe ich meinen ollen Übungsleiterschein wieder rausgekramt und vertrete in unserem neuen Kiez ab und zu Kinderturngruppen, wenn es gerade passt, was zur Folge hat, dass ich mich und uns hier noch ein bisschen besser vernetzen kann. Nicht so übel also am Ende, meine Lauf-Auszeit (die jetzt schon wieder rum ist).

-> ZWEI: Im Mai feierte ich das erste Mal seit 13 Jahren ohne Euren Papi meinen Geburtstag, und wie Ihr vielleicht wisst, bin ich ein Geburtstagsfreak. Ich liebe es, Geburtstagskind zu sein und verwandele mich an diesem Tag regelmäßig in ein 10-Jähriges Mädchen, wobei sich mit der Zeit Erwartungen eingeschlichen haben, wie der perfekte Geburtstag auszusehen hat: Um Mitternacht steht da bitte ein Geburtstagstisch, die Blumen müssen die Lieblingsblumen Eurer Urgroßmutter sein (Gerberas), der Kuchen natürlich hausgemacht, und ein handgeschriebenes Kärtchen ist ein Muss, auch wenn man mir persönlich gratuliert (oh Gott, das klingt furchtbar anstrengend, wenn ich das selbst lese, aber mindestens ein Mensch auf der Welt teilt diese Geburtstagsträume mit mir, fragt mal Eure Tante). Ich kürze mal ab: Dieses Jahr war so ziemlich ALLES anders. Um zwölf wurde ich nicht umgeben von Wunderkerzen besungen, sondern lag im BETT. Und es war TOLL (weil ich einen Kuss bekam und mir das sowas von reichte, wie viel mehr manchmal weniger sein kann). Der ganze Tag verlief unfassbar unaufgeregt und damit komplett anders als ich es mir angewöhnt hatte – und ich ÜBERLEBTE es trotzdem! Sogar ohne Frühstück im Bett. Und freute mich am Abend, erstmals nicht die innerliche Liste abgehakt zu haben. Ich hatte sie völlig vergessen.

-> DREI: Im Sommer urlaubte ich mit der tollen Anne, über die ich ja in diesem Brief hier neulich schon schwärmte, am Lago Maggiore. Ich hatte mir fest vorgenommen, das Dörfchen, in dem Euer Papi und ich 2012 heirateten, zu meiden. Und schaffte es bis zum letzten Tag, der zufälligerweise auf den verflixten siebten Hochzeitstag fiel. „Ich will doch hin“, sagte ich Anne an diesem Morgen. Während wir die Kurven in das kleine Bergdörfchen nahmen, wurde mir schlecht. Sechs Jahre lang hatten wir vor dem Rathaus ein Foto gemacht. Erst als Brautpaar, dann mit Kugelbauch, später mit Euch als Babys, Krabbelkinder, laufenden Geschöpfen, und so weiter. Immer hatte ich ein weißes Kleid getragen, doch nicht nur das war heute anders. Erstmals würde ich alleine dort stehen – während Ihr zeitgleich Urlaubspremiere mit Papi und seiner neuen Freundin hattet. Trotzdem wollte ich mir diesen Abstecher reinziehen, anstatt die Augen zu verschließen, den Kloß zu verschlucken & auf der sicheren Komfortzonen-Strecke nur vorbeizufahren. Und soll ich Euch was sagen? Wider Erwarten war es okay. Und zwar so okay, dass wir beschlossen, sogar noch kurz einen Abstecher in die schöne Villa zu machen, wo wir diesen tollen Tag damals feierten. Ich lachte und weinte mit den tollen Besitzern, wir lagen uns in den Armen, tranken Prosecco. Und ich realisierte, dass dieser Ort noch immer ein schöner ist. Dass ich hier sein kann, auch ohne vom Schmerz zerrissen zu werden. Dass es mehr als nur okay ist. Dass ich hier stehen und dankbar an einen der besten Tage meines Lebens denken kann, ohne dabei verbittert zu sein.
Versteht Ihr, was ich meine? Je länger ich heute über all das nachdachte, kurz bevor ich Euch abholte, desto klarer wurde mir, dass ich das ab sofort auch bewusst tun würde. Es war der Morgen, an dem ich beschloss, offizielle Komfortzonenverlasserin zu werden.
Für Euch, für mich. Für ein besseres Gefühl in diesem neuen Leben, das ich jeden Tag ein bisschen mehr mag.
In Liebe,
Eure Zwillimuddi