Von dem Tag, an dem ich mich in einem indischen Wüstendorf selbst verfluchte

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Ausschließlich Kerle. Und ich mittendrin.

Liebe Elli, lieber Theo,

vor ziemlich genau 35 Stunden stand ich in einem Festzelt in einem Mini-Dorf im indischen Wüstenstaat Rajasthan, und verfluchte mich. Ich verfluchte mich, weil ich plötzlich Angst hatte. Ein blödes Bauchgefühl. Vielleicht sogar ein bisschen Panik. Um mich herum standen und saßen rund 100 Männer und ein paar Jungen. Ich war die einzige weibliche Person in dem Zelt, die vermutlich Erste mit Buttermilch&Spucke-Teint und blonden Haaren, die sich in dieses Dorf je verirrt hatte. Und auf einmal schossen mir diese Gruppenvergewaltigungs-Schlagzeilen durch den Kopf, die es aus Indien immer mal wieder gegeben hatte. Ich wollte das nicht denken, und ich wollte mich auch nicht fragen, ob es ein Fehler war, herzukommen. Ich wollte den Abend genießen, aber es gelang mir nicht – nicht in diesem Moment.

Dabei war alles eigentlich ziemlich gut: Kollege Parwez und ich hatten auf unserer Dienstreise einen Inder kennengelernt, der uns bei einer Reportage geholfen und ein bisschen für uns gedolmetscht hatte. Als wir fertig waren mit dem Job, lud er uns spontan zu sich nach Hause ein, wo seine Familie mich kurzerhand komplett einkleidete, schminkte, parat machte – Arvind wollte uns mit zur Hochzeit seines Cousins nehmen.

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Bisschen wie an Karneval, aber ich fühlte mich gar nicht so unwohl in meinem Saree.

Da waren wir nun. Nur von Frauen war weit und breit nichts zu sehen. „Die warten alle im Haus der Braut“, erklärte Arvind uns in seinem herrlichen Indian-Style-Englisch, „dort gehen wir gleich zusammen hin.“ Ich sah mich um. Einige der Männer schauten mich an, als sei ich ein seltsames, alienartiges Geschöpf. Manche lächelten, zwinkerten mir zu. Ein paar Jungs, vielleicht 10 oder 12, umzingelten mich und fassten immer wieder meine Haut an den Armen an, betatschten mich regelrecht, stellten mir Fragen, die ich nicht verstand. „Oh Gott, Vorsicht“, sagte Arvind irgendwann mit großen Augen, als mein Saree, das indische Gewand, das ich trug, einen winziges Stück verrutschte und einen Mini-Teil meiner Schulter freilegte, „diese Stelle muss immer verdeckt sein, hier geht es noch viel traditioneller zu als in der Stadt.“ Ich verkniff mir meine Frage nach dem „sonst…?“ und blickte nervös in die Ecke des Zeltes, in der ein paar Betten aufgebaut waren.

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Die Betten standen nur wenige Meter neben dem Buffet.

Ich mache mal einen Schnitt an dieser Stelle: Die Betten waren natürlich für die Gäste, die aus anderen Dörfern kamen und über Nacht blieben, und nicht für absurde Dinge, die sich mein Kopf da gerade zusammenspann. Und ja: es gab diese Prozession. Tatsächlich warteten alle Frauen samt Braut in einem Haus am anderen Ende des Weges. Mir passierte nicht einmal im Ansatz etwas Negatives, ganz im Gegenteil: Inmitten der anderen Gäste bestaunten wir die Zeremonie, die rund um ein Feuer und unter einer Art selbst gebautem Tempel stattfand, fühlten uns wie in 1001 Nacht, ließen uns von diesen knallbunten Gewändern verzaubern, lernten den Opa der Braut kennen und den Vater des Bräutigams, gaben unsere Geschenke mit allen Ritualen, die dazu gehörten, ab, machten Quatsch mit den Kids, rauchten mit Arvind heimlich im Schatten der Bäume am Rande des Zeltes, schossen Fotos mit anderen Gästen, und hatten am Ende einen wunderbaren, unvergesslichen Abend.

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Hier ging es dann so langsam, aber sicher – dank Kingfisher.

Aber: Ich brauchte tatsächlich zwei bis drei „Kingfisher Strong“ (das meistgekaufte indische Bier, diese Variante hat 10 Prozent Alkohol), um meine blöden Gedanken zu vertreiben, und mich etwas zu entspannen und deshalb beschloss ich, Euch diese Zeilen zu schreiben, während ich hier am Flughafen auf den Flieger nach Berlin warte:

Bevor ich in dieses Land flog, hatte ich neben Block & Stift, iPhone & Macbook vor allem einen ganzen Koffer voller Vorurteile im Gepäck. Indien sei so dreckig, hatten so viele gesagt, und so voller Smog, dass der Himmel nie richtig blau werde. Bei dem Wasser müsse man aufpassen, hörte ich von einigen Freunden, es sei gepanscht – und selbst wenn die Plastikflaschen versiegelt seien, könne man nicht sicher sein: Am besten nie direkt aus der Flasche trinken, sondern den Inhalt in den Mund schütten, rieten mir etliche. Oder lieber gleich die Dose Coke. Dann waren da all die Warnungen auf den Bildschirmen im Tropeninstitut, wo ich mich vor der Reise impfen ließ, die Erklärungen zu Malariamücken, Tollwut-Hunden und Hepatitis B – nicht zu vergessen die Hinweise, was und wo man auf keinen Fall essen sollte, wenn man kein gesteigertes Interesse an miesen Magen-Darm-Geschichten hat. „Habe es als raues Pflaster in Erinnerung“, schrieb selbst mein Chef, der eigentlich einer der lässigsten Typen des Universums ist, kurz vor der Abreise, „pass auf Dich auf.“

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Gutes Zeug.

Natürlich ist das nicht alles totaler Quatsch, natürlich macht es Sinn, ein bisschen achtzugeben, natürlich haben auch wir diverse Slums und noch mehr Armut gesehen, natürlich passiert hier mitunter Mist, natürlich ist Indien eine andere Welt. Vermutlich hatten wir ein bisschen Glück, in diesen zweieinhalb Tagen vor Ort keinen Mist erlebt zu haben, und vielleicht verdanke ich meinem Vater, der mir seinen unempfindlichen Schweinemagen vererbte, dass ich verschont blieb und nur Parwez ein „bisschen Bauch“ hatte – und vermutlich war dieses sauteure Anti-Malaria-Mückenspray, das wir auf dem Hinweg in der Flughafen-Apotheke noch schnell kauften, so wirkungsvoll, dass die kleinen Biester schlicht keine Lust auf unser Blut hatten.

Was Ich sagen will, ist: Passt auf Euch auf, wenn auch Ihr später mal alleine in der Weltgeschichte unterwegs seid (oh Gott, hoffentlich passiert das erst in mindestens 30 Jahren!) – aber lasst den voreingenommenen Gedankenmist zu Hause. Macht Euch Euer eigenes Bild, und lasst Vorurteile Vorurteile sein.

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Udaipur.

Mein Bild von diesem Land, das mich bislang eher peripher interessierte, hat sich jedenfalls komplett gedreht. Privat nach Indien zu fliegen, das hielt ich bis vor vier Tagen für komplett ausgeschlossen. Jetzt denke ich ernsthaft darüber nach, eines Tages mit Euch und Eurem Papa herzufliegen – Arvind hat eine kleine Tochter, die zuckersüß ist und genauso alt wie Ihr, er würde uns all das zeigen, für das Parwez und mir jetzt keine Zeit blieb. Und dann seht IHR vielleicht, wie schön dieses Land ist, und wie unfassbar nett und gastfreundlich seine Bewohner sind, bevor Ihr all diese Dinge hört, die mich vorher ein wenig nervös gemacht haben.

Apropos nervös: Habt Ihr den Hauch einer Vorstellung, wie sehr ich mich auf Euch freue?! In wenigen Stunden werde ich in Tegel in ein Taxi steigen, auf direktem Wege zu Eurer Kita fahren und Euch mit Pipi in den Augen nicht mehr loslassen wollen.

Bis gleich, meine Süßen!

Eure Zwillimuddi

P.S.: …und weil es (dann doch noch) so schön war, sind hier ein paar mehr Bilder der Hochzeit:

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Getting ready: Arvinds Cousinen schminken mich für die Hochzeit.
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Ich lasse den Eyeliner trocknen. Nicht im Bild: die Fächer, mit denen es schneller gehen soll.
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Fertig! Die tollen Ladies gingen zwar gar nicht mit zur Party…
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…sahen aber trotzdem laufstegmäßig gut aus. In Gelb: Arvinds Mama, in Pink: seine Frau Divya
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Familienfoto! Ich falle jawohl kaum auf.
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Links neben mir: Arvinds Bruder. Vorne: seine süße Tochter Mimansa – genau so alt wie Ihr!
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Shooting in der Abendsonne: In diesem roten Haus in Udaipur wohnt Arvinds ganze Familie
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Vor der Zeremonie werden dem Bräutigam die Füße gewaschen und mit frischen Blüten bestreut
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Umzug zum Haus der Braut: Die Männer (und ich) ziehen durch das kleine Dorf
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Hier warten die Frauen – die Braut versteckt sich zu diesem Zeitpunkt noch
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Auf einem Pferd reitet der Bräutigam in das Zelt
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Fast drei Stunden dauert die Zeremonie. Der Herr in weiß leitet sie, spricht Mantras
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Die Dame im Lichtkegel notiert die Namen der Gäste – und wer was schenkt
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Hier überreichen wir unser Geschenk – Arvind (links neben mir) erklärt mir, wie das abläuft.
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Der älteste Gast! Er ist 82 und der Opa der Braut
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MIR brannte nach dem Essen der ganze Rachen, SO scharf!! Diese Kids kennen’s nicht anders
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Die meisten Kinder feierten bis weit nach Mitternacht mit, darunter diese drei. Müde?! Niemals!

 

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