
Liebe Zwillis,
als wir am vergangenen Wochenende von Hochzeit Nummer 3 im August zu Taufe Nummer 2 fuhren (jetzt ist erstmal Schluss mit der Feierei, versprochen!), lerntet Ihr im Zug den kleinen Denis kennen. Ihr drei wart sofort auf einer Wellenlänge, habt Spielzeug und Speisereste brüderlich geteilt und mit torkelnden Schritten den gesamten Waggon unsicher gemacht.
Nichts außergewöhnliches, eigentlich – ich gucke Euch immer gern dabei zu, wenn und wie Ihr soziale Kontakte knüpft. Doch diese Situation anzusehen tat gerade in diesen Tagen so besonders gut. Denn dass Denis dunkelhäutig ist, interessierte Euch nicht die Bohne. Dass seine Mama und ich uns mit Händen und Füßen unterhielten, fandet Ihr offensichtlich lustig – und Ihr drei spracht ohnehin eine Sprache, die nur 13 Monate alte Babys verstehen, ganz gleich, woher sie stammen.
Die Situation strahlte eine Selbstverständlichkeit aus, die hierzulande derzeit leider so gar nicht selbstverständlich ist: Seit Wochen beherrscht die sogenannte Flüchtlingsdebatte die Nachrichtenlage – und seit Wochen gibt es neben vielen Menschen, die helfen, auch immer wieder die, die sich selbst „Asylkritiker“ nennen. Die, die stänkern, demonstrieren, klagen und teils noch viel schlimmere Dinge tun, die einfach nur wütend machen. Vor allem dann, wenn man sich mal eine Sekunde mit den Geschichten hinter den Zahlen und Fakten auseinandersetzt.
Mag sein, dass Denis‘ Schicksal nicht so akut ist wie das der weltweit rund 60 Millionen (!) Menschen, die gerade auf der Flucht sind. Er ist schon seit einem knappen Jahr in Deutschland, seine Brüder haben in dieser Zeit richtig gut Deutsch gelernt, und wenn ich seine Mama richtig verstanden habe, hat die Familie Hilfe von deutschen Freunden und sogar Verwandtschaft in ihrer neuen Heimatstadt Lippstadt. Auch ihre Kleidung und letztendlich das Zugticket ließen diese Rückschlüsse zu. Dennoch haben sie Nigeria verlassen, das Land, das nicht nur von der radikalen Islamistengruppe Boko Haram terrorisiert wird, sondern in dem 2014 auch noch die tödliche Ebolafieber-Epidemie ausbrach. Jetzt ist ihr zu Hause über 5000 Kilometer entfernt – und es ist fraglich, ob sie es je wieder sehen.
Während ich mir das bewusst machte, kam mir einer dieser typischen Eltern-Sprüche in den Sinn: Wisst Ihr eigentlich, wie gut es Euch geht?! Früher fand ich diesen Satz furchtbar – jetzt bin ich drauf und dran, ihn selbst zu sagen. Aber vorher will ich ihn Euch zumindest kurz erläutern.
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Ihr seid heute Morgen in Euren Betten aufgewacht. Du Elli, in Deinem, und Du Theo, in Deinem. Es sind Eure eigenen – Ihr müsst sie nie mit Anderen teilen. Die Matratzen in Euren Betten sind nicht verschimmelt, und mit Laken bezogen, die weder dreckig noch löchrig sind. Sie stehen in einem Zimmer, das ebenfalls Euer eigenes ist und in dem es kein Ungeziefer, stattdessen jede Menge buntes Spielzeug gibt. Die Wände sind aus Stein, sie sind nicht einsturzgefährdet, es kann – wenn nötig – geheizt werden und es regnet nicht mal durch.
Nach dem Aufstehen habe ich Euch frische Windeln gemacht, obwohl nur Pipi drin war. Das ganze Regal ist voller Nachschub, und dafür mussten wir nicht sparen. Die alten Windeln habe ich in einen Eimer geworfen, der nicht stinkt, weil er einen Anti-Riech-Mechanismus besitzt. Später bringe ich den Müll in den Hof, in dem es keine Ratten gibt, weil zwei Mal in der Woche Männer mit einem orangefarbenen Lastwagen kommen und die Tonnen leeren.
Zum Frühstück gab es Brot – frisches. Ihr habt einen Großteil liegenlassen, weil Ihr wieder nur scharf auf den Belag wart: den körnigen Frischkäse und die Leberwurst haben wir nicht als Spende erhalten, wir konnten ihn selbst kaufen. Im Biomarkt.
Mittags gingen wir spazieren. Wir mussten uns dabei nicht hinter Büschen verstecken, und es hat niemand auf uns geschossen. Als wir die Hauptstraße an der Ecke vorne überquerten, hat sich kein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt.
Als ich Euch in der Apotheke neue Zahnbürsten kaufte, mussten wir keine Angst haben, uns dabei mit tödlichen Krankheiten zu infizieren.
Gerade schlaft Ihr in Eurem Kinderwagen, während ich mir in meinem Lieblingscafé einen Spinat-Smoothie leiste, der vermutlich den Vitaminbedarf einer fünfköpfigen Familie decken würde. Gleich treffen wir Euren Kumpel Ferdi, der wie Ihr sowohl Mama als auch Papa hat, weil keiner von ihnen wegen seiner Hautfarbe, seiner Meinung oder seiner Religion ermordet wurde. Wir werden zusammen auf einen Spielplatz gehen, auf dem Dutzende weitere Kinder zusammen spielen, bei denen das ganz genau so ist.

Wenn wir nach Hause kommen, werde ich Euch baden. Um die Wanne zu füllen, muss ich nicht mit einem Krug zur nächsten Quelle laufen. Es sprudelt einfach so aus dem Wasserhahn, ist so warm wie wir wollen und sogar überhaupt nicht dreckig.
Danach können wir Oma und Opa anrufen, und wenn Ihr Lust habt, könnt Ihr sie sogar auf dem Handy-Display dabei anschauen. Ihr müsst Euch nicht bis auf Weiteres oder gar in Ungewissheit, ob wir uns wiedersehen, von ihnen verabschieden – weil wir sie jederzeit wieder anrufen können. Es macht keinen Unterschied, weil wir eine Flatrate haben, mit der wir so viel und lange im Internet surfen können wie wir wollen.
Falls Euer Papi heute Abend nicht um sechs nach Hause kommt, kommt er um sieben. Selbst wenn es acht oder neun wird – er kommt, ganz sicher! Sein Job ist nämlich nicht lebensgefährlich, er muss sein Land nicht im Krieg verteidigen.
Nach dem Abendbrot bringe ich Euch ins Bett. Es sind exakt die Betten, in denen Ihr heute Morgen erwacht seid, und auch gestern, vorgestern und überhaupt immer – wenn wir nicht gerade im Urlaub waren. Bei den Klängen Eurer Spieluhren könnt Ihr ohne Angst und Sorgen einschlummern – denn Ihr werdet auch morgen wieder hier aufwachen. Und übermorgen, und überübermorgen und unzählige weitere Male.
Wisst Ihr eigentlich, wie gut es Euch geht?
IHR SEID ZU HAUSE.
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Schon klar, dass Ihr all das noch nicht zu schätzen wisst. Aber ich tue es stellvertretend für Euch, in diesen Wochen und Monaten mehr denn je – und muss immer wieder an die Szene im Zug denken; wie süß Ihr drei Babys zusammen gespielt habt. Ist es nicht verrückt? So manch einer in unserem Land könnte sich glatt eine Scheibe von Euch abschneiden, selbst wenn er oder sie Jahrzehnte älter ist.
Bis nächste Woche!
In Liebe,
Eure Zwillimuddi

P.S.: Plagiatsvorwurfprophylaxe: Die Idee für diesen Brief kam mir, nachdem ich bei Facebook einen Beitrag des Cartoonisten Ralph Ruthe las, in dem er u.a. über die Selbstverständlichkeit schrieb, sich ein Glas Leitungswasser zu holen, „einfach so“. Seine Zeilen gingen mir nicht aus dem Kopf, und so entschloss ich, das Ganze auf Euch zu übertragen.
P.P.S.: Ihr wachst in einen tollen Freundeskreis hinein! Unser Kumpel Spreitzi verbringt gerade seinen Urlaub damit, durch die Hauptstadt zu fahren und Spenden für Flüchtlinge einzusammeln. Er bringt sie einer Freundin, die gerade 30 Asylbewerber in ihrer Tanzschule beherbergt. Euer Papa und ich haben spontan unseren Kleiderschrank aussortiert und zwei große Säcke Klamotten gespendet – so wie Dutzende unserer Freunde auch. Jeder hilft, wo er kann; und so hat diese Debatte am Ende vielleicht doch irgendwie auch etwas Positives.
Hallo, ich habe deinen Blog über Facebook gefunden und bin über deine Art des Schreibens begeistert. Du hast vollkommen Recht. Viele wissen nicht „wie gut wir es haben“. Du hast einen neuen Follower. LG Anna
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Das freut mich sehr! Vielen Dank für den schönen Kommentar. Liebe Grüße!
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Wunderschön geschrieben! Ich selbst habe (noch) keine Kinder, aber du schreibst so toll, dass mir bei deinen Artikeln Tränen in die Augen schießen :) Weiter so!
LG Nina
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1000 Dank, liebe Nina! :-)
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