Houston, wir haben ein (Beiß-)Problem

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Tatort Trampolin: Dieses Bild entstand wenige Sekunden vor der weiblichen Hüpf-Attacke

Liebe Elli, lieber Theo,

vorletzten Freitag auf einem Spielplatz unseres Vertrauens: Du, Theo, hüpfst auf dem im Boden eingelassenen Trampolin, gluckst vor Freude. Nach ein paar Minuten gesellt sich ein schätzungsweise sieben- bis achtjähriges Mädchen zu Dir auf die wabbelige Fläche. Sie springt mit voller Wucht auf und nieder. Du hast keine Chance, Dich zu halten: plums. Kaum hingefallen, rappelst Du Dich auf, wankst in Richtung Wirbelwind, greifst den Arm des Mädchens – und beißt zu.

Ich beobachte die Szene aus der Ferne, spurte zu Dir. Entschuldige mich bei dem Mädchen und seiner Mutter. Schiele auf den Arm des Mädchens, und bin, ohne es mir anmerken zu lassen, etwas erleichtert: man sieht zwar einen leichten Abdruck – aber der wird in einer halben Stunde Geschichte sein. Also: erneut ein dickes Sorry in Richtung Turbo-Trampolin-Springerin, abschließend-ermahnende Worte für Dich, Theo; abgehakt.

Denkste. Etwa 15 Minuten später kommt die Mutter Deiner temporären Rivalin plötzlich im Eiltempo auf mich zu. Sie reißt den Arm ihrer Tochter wie eine Trophäe in die Luft, zeigt mir ein riesiges Pflaster, das die Stelle, an der Du zugebissen hast, verdeckt. Sie sei in der Apotheke gewesen, berichtet sie aufgeregt. Dort seien für Desinfektionsspray samt „Wundpflaster“ 8,50 Euro angefallen. Sie erkundigt sich noch kurz, ob ich Eure Babysitterin oder die echte Mutter sei (hihi, langsam beginnen mich solche Fragen zu freuen, aber das ist ein anderes Thema) – und sagt dann allen Ernstes: „Ich hoffe, Sie sehen ein, dass SIE diese Kosten übernehmen sollten.“

Ach herrjemine. Ich: sprachlos. Bat diese Frau mit der 200-Euro-Jeans und der Designerbrille mich soeben tatsächlich um 8,50 für ein Pflaster?! Betreten krame ich in meiner Handtasche, ziehe einen zerknitterten Zehner raus – und noch ehe ich mich versehe, schnappt die Wutmutter mir den Schein aus der Hand und stampft, ihre offensichtlich ebenfalls etwas verwirrte Tochter hinter sich herschleifend und ohne ein weiteres Wort zu sagen, davon.

„Herzlich Willkommen in Prenzlauer Berg“, könnte man jetzt sagen, denn klischeehafter geht’s ja kaum, wo sich Deutschland doch seit Jahren über die übereifrigen P’berg-Muddis lustig macht. Oder die Dame einfach kopfschüttelnd als hysterische Glucke bezeichnen, so wie Euer Dad es tat, der ein paar Meter entfernt stand. Aber um ehrlich zu sein, beschreibt die Geschichte tatsächlich eine Tatsache, der wir wohl mal näher ins Auge sehen müssen. Denn diese Szene war leider kein Einzelfall.

HOUSTON, WIR HABEN EIN PROBLEM! EIN BEIß-PROBLEM, UM GENAU ZU SEIN.

Theo, bei Dir ist es schon seit ein paar Monaten so, dass Du, wenn Dir etwas nicht passt, Du etwas haben willst, was Du nicht hast, Du müde oder schlecht gelaunt bist, zuschnappst. Dein Papa und ich geben unser Bestes, exakt das zu unterbinden, und ich halte uns für einigermaßen konsequent, was unsere Vorgehensweise in dieser Sache betrifft. Wenn Du beißt, ist das Prozedere wie oben beschrieben: „Opfer“ trösten. Entschuldigen. Wir tun das im Moment noch stellvertretend für Dich, bringen Dir aber auch bei, es selbst zu tun. Meistens machst Du bereits freiwillig „ei“, streichelst einmal über die betroffene Stelle und guckst etwas beschämt zu Boden. Wenn die Rahmenbedingungen es zulassen, ziehe ich Dich kurz raus aus der Situation, setze mich einen Moment mit Dir an den Rand, erkläre, dass nur Krokodile und Tiger beißen, und Du weder ein Krokodil noch ein Tiger, sondern Theo bist. Manchmal sagst Du dann zuckersüß „ja“ – so, als hättest Du ganz genau verstanden, was ich meine.

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IHR neulich im Zoo. Dass Ihr wilde Tiere gern beobachtet: super! Sie auf dem Spieli nachzumachen: eher nicht so super…

Doch dann schlägst Du wieder zu. Ja: Du bist ein kleiner Wiederholungstäter. Und zwar nicht nur auf dem Spielplatz, sondern auch zu Hause. Du, Elli, bist dadurch inzwischen ganz schön hart im Nehmen. Anfangs ließt Du Dir ziemlich viel gefallen. Doch natürlich passiert allmählich, was passieren muss: Du beginnst Dich zu wehren. Haust Deinen Bruder zum Beispiel – und findest mitunter so Gefallen daran, dass auch Euer Kumpel Ferdi inzwischen ganz schön oft einen übergebraten bekommt.

Und damit haben wir den Salat: Das nämlich gehört ebenfalls zu diesen Dingen, die man sich vornimmt, wenn man noch keine Kinder hat. MEIN Kind wird niemals mit einer ungeputzten Schnoddernase oder Quetschi-Flecken auf dem Shirt durch die Gegend laufen. MEIN Kind wird im Supermarkt keinen Aufstand machen, wenn es etwas nicht bekommt. Und eben auch: MEIN Kind wird keine anderen Kinder verletzen, wo kommen wir denn dahin?

An genau diese Stelle, an der ich jetzt bin. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte mich mit Euch an unseren großen Esstisch setzen, Euch fragen, wo diese partielle Aggressivität herkommt. Was ich dagegen tun kann. Ob Ihr irgendetwas braucht, was Ihr nicht habt. Wie ich Euch helfen, wie ich Euch verstehen kann. Ihr würdet mir dann kurz Eure Beweggründe erläutern, wir würden das Ganze ausdiskutieren, eine Lösung finden, und gut ist.

Aber dafür seid Ihr natürlich zu jung.

Also mache ich das, was mir übrig bleibt: Ich lese zu dem Thema, was ich nur finden kann, ich spreche mit Freunden, Experten, Verwandten. Problem: Die Meinungen reichen, wie vermutlich alle Antworten auf Erziehungsfragen, nicht nur von Schwarz bis Weiß, sondern schimmern in der Mitte in den vielfältigsten Regenbogenfarben. 10 Leute, 15 Ansichten. Ein kleiner Auszug:

Eure Erzieherin sagt: Passiert in diesem Alter. Diese Phase hätten viele, bevor sie in der Lage seien, sich zu artikulieren. Irgendwie müsse man sich ja bemerkbar machen, sich ausdrücken, sich wehren. Manche würden schreien, einige hauen – und andere eben beißen. Interessanterweise habe sie es vor allem bei Zwillingen schon mehrfach beobachtet. Stichwort Aufmerksamkeit: Ihr müsst sie eben meistens teilen, und mit so einer kleinen Beiß-Attacke sei einem die Aufmerksamkeit ja zumindest für ein paar Minuten sicher. Ihr erster Ansatz sei ebenfalls eine aktive Entschuldigungs-Phase, dann gehe sie – in Form einer Mini-Sanktion – noch einen Schritt weiter: „Ich setze das Kind kurz an den Rand, und sage ihm, dass es dort einen Moment sitzen bleiben muss. Wenn es aufsteht, setze ich es wieder hin. Und betone immer wieder, dass es nur mit den anderen Kindern spielen darf, wenn es lieb ist.“

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Beißen sei eine Phase, sagt dieses Eltern-Portal – und „durchaus normal“

Google sagt: mal wieder alles und nichts, je nachdem, was man (nicht) hören will. Viele Kleinkinder seien heutzutage komplett überfordert mit dem, was sie so Tag aus, Tag ein erlebten. Sportkurs, Spielecafé, musikalische Früherziehung, Schwimmen, Tierpark – und das alles nach der Kita. Häufig sei beißen ein Ausdruck von Überforderung; generell, aber auch in der speziellen Situation. In der Regel stecke keinerlei böse Absicht des Kindes dahinter. „Vor dem dritten Lebensjahr verstehen Kinder schlicht nicht, dass sie anderen wehtun, wenn sie beißen“, erklärte ein Experte in einem Elternforum. So könne es durchaus vorkommen, dass Kinder nicht nur beißen, wenn ihnen die Schaufel weggenommen wird oder sie unbedingt diesen roten Bagger eines anderen Kindes haben wollen – sondern auch, wenn sie Liebe ausdrücken wollen. Das erschien mir tatsächlich logisch: Dass Küsschen toll sind, Bisse aber nicht, muss man ja erst einmal lernen.

Eure Oma sagt: dass Eure liebe Mami selbst mit ziemlich scharfen Beißerchen unterwegs war. Als wir die Tage am Telefon drüber sprachen, erzählte sie, dass ich  Sandkastenfreund Felix einmal so heftig biss, dass man Tage später noch die Spuren sah. Ihre Strategie: Konsequent sein! „Wenn Du in der Spielgruppe gebissen hast“, sagte sie, „sind wir SOFORT gegangen, auch wenn diese Termine für mich immer schön waren, der Pläusche mit den anderen Müttern wegen.“ Auf dem Heimweg habe sie dann mit ein bisschen „Psychoterror“ nachgelegt: „Ich habe dann manchmal gesagt: „Die anderen Kinder singen jetzt gerade bestimmt Dein Lieblingslied. Wie schade, dass wir gar nicht dabei sein können…“ Ziemlich pünktlich zu meinem dritten Geburtstag habe sich die Sache dann komplett erledigt. Eure Tante war auf die Welt gekommen. „Ihr hast Du kein einziges Mal wehgetan“, erzählte Eure Oma mir. „Ich konnte in den Keller zum Wäsche aufhängen gehen und Euch unbesorgt im Kinderzimmer lassen.“

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Zahnloser Tiger.

Der Erziehungsratgeber sagt: Auch wenn die Kinder einen selbst attackieren, solle man niemals zurückbeißen, um Ihnen zu zeigen, wie weh das tut (ach was) – auch im Spaß solle man nicht zuschnappen (ups). Tatsächlich habe ICH beim Tandemstillen, wenn Ihr mir Eure Finger neugierig in den Mund stecktet, ab und an mal so getan, als würde ich Eure Finger anknabbern und auffuttern, übrigens unter haltlosem Gegibbel Eurerseits. Fataler Fehler meinerseits?!

Mein Bauch: sagt wenig, sondern hat neben letzt genannter einfach 1000 Fragen. Übertrage ich den Stress, den ich manchmal im Job habe, auf Euch? Verarbeitet Ihr das auf diese Art und Weise verarbeitet? Unternehme ich nach der Kita zu viel mit Euch? Soll ich den Musikkurs, zu dem wir Donnerstagnachmittags immer gehen, wieder kündigen? Kann ich sonst irgendetwas anders machen? Sollte ich nicht Dir, Theo, nach Beißattacken Aufmerksamkeit schenken, sondern vielmehr den Gebissenen? Aber Dich links liegen zu lassen, wäre das nicht ignorant? Würdest Du Dich dann noch hilfloser fühlen, als vielleicht eh schon? Muss ich nicht DEIN Verhalten analysieren, um herauszubekommen, wieso und in welchen Fällen Du beißt? Ist diese Phase vielleicht wirklich normal? Lache ich mich in einem Jahr über diese Gedankengänge kaputt? Bin ich komplett bescheuert, wenn ich darüber nachdenke, ab wann man als Mutter darüber nachdenken sollte, einen Kinderpsychologen anzurufen?

Vielleicht geht es gerade etwas mit mir durch, und vermutlich lest Ihr diesen Text ohnehin nie zu Ende, weil er in Sachen Länge definitiv unter die Top3 all meiner Briefe kommt, die ich Euch je geschrieben habe. Aber auch das musste nach all den Schönwetter-Briefen der vergangenen Wochen mal raus. Natürlich ist das Leben mit Euch weiterhin toll, natürlich ist das ein Luxusproblem gegen vieles, was sonst gerade in der Welt passiert. Aber es ist nun einmal das, was mich gerade beschäftigt, und wenn ich diese niedergeschriebenen Zeilen hier noch einmal überfliege, habe ich einen richtigen Kloß im Hals.

Aber nach vorne blicken, und positiv denken. Ich lasse es Euch nicht merken, aber ganz manchmal freue ich mich insgeheim auch über Eure „Schlagfertigkeit“. Gestern zum Beispiel, als wir Schnitzel im Prater aßen. Kurz bevor das Essen kam, spieltet Ihr mit anderen Kindern, und ein etwas älterer Junge hatte ein Plastik-Megaphon. Er hielt es Dir, Theo, ins Gesicht, steckte seine Zunge raus und rief: „Ätschibätsch, Du darfst nicht damit spielen!“ Du hast ihn kurz schräg angesehen, ihn umgeschubst, hast Dir das Megaphon geschnappt und es ganz in Ruhe inspiziert, während der vorlaute kleine Kerl verdutzt am Boden saß und gar nichts mehr sagte. Coole Socke, mein Sohn, dachte ich stolz-schmunzelnd – irgendwie fand ich die Vorstellung, dass Du Dir nichts gefallen lässt, ganz gut.

Eines Tages wirst Du Auseinandersetzungen auch ohne Schubsen & Co. lösen können. Ich hoffe sehr, dass ich Dir und auch Elli genau das in den kommenden Monaten näherbringend kann. Meine konkreten Maßnahmen, die ich aus den noch weitaus umfangreicheren gesammelten Informationen ziehe, sind jedenfalls folgende: 

Erstens: Konsequenz. Wie Eure Oma einfach mal nach Hause gehen. Wirkt (offensichtlich, denn ICH nutze meine Zähne inzwischen ausschließlich zur Nahrungszerkleinerung).

Zweitens: Ich reserviere mindestens zwei von fünf Nachmittagen in der Woche, an denen wir NICHTS vorhaben. Keine Termine, keine Playdates. Nur für uns. Ich: nicht quatschenderweise mit anderen Muddis auf der Spielplatzbank, sondern bei Euch. Mit Euch rutschen, mit Euch schaukeln, mit Euch wippen. Und Trampolin springe ich übrigens auch ziemlich gern.

Drittens: Ich versuche, nicht laut zu werden, selbst wenn ich die Krokodil-Nummer zum 37. Mal erkläre(n muss). Vergangene Woche passierte mir das zu Hause mal, und ich merkte selbst, wie dumm das ist (noch bevor Euer Papi, der einfach IMMER ruhig bleibt,  mir eindringlich erklärte, dass dies der falsche Weg sei). Wie sollt Ihr kapieren, dass Aggressivität nicht weiter führt, wenn man selbst (wenn auch nur verbal) aggressiv ist?

Viertens: viel, viel Liebe. Ich werde jetzt schlafen gehen – und freue mich schon, wenn Ihr in etwa drei bis vier Stunden vor unserem großen Bett steht. Einige Mütter im Umfeld, deren Kinder längst durch und selbstverständlich die ganze Nacht in ihren eigenen Betten schlummern, belächeln uns für unser Familienbett. Aber wenn mein Wecker morgens um 6 Uhr klingelt, und ich neben meinen drei liebsten Lieblingsmenschen aufwache, denn bleibe ich meist noch zehn Minuten liegen, starre Euch an, kann mein Glück kaum fassen – und mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Ihr zwei schlafenden Engel auch nur einer Ameise etwas zu leide tun könntet.

Vermutlich werdet Ihr mir zeitnah wieder das Gegenteil zeigen. Aber das – und auch sonst nichts dieser Welt – wird niemals etwas daran ändern, wie sehr ich Euch liebe!

Eure Zwillimuddi

P.S.: Ich habe beschlossen, mich mal etwas vom strikten Donnerstag-Konzept zu lösen. Ab sofort schreibe ich Euch Briefe, wenn ich wirklich etwas zu sagen habe. Und wenn nicht, halte ich einfach mal die Klappe ;-)

 

 

 


2 Gedanken zu “Houston, wir haben ein (Beiß-)Problem

  1. Du bist eine wundervolle, tolle Mutter, die sich echt Gedanken macht, Sich befragt, gerne Ratschläge annimmt . Bleibe so wie du bist deine beiden können sich glücklichschätzen dich Mama nenen zu können. Dies kommt aus tiefsten Herzen. Ich bin Stolz und Dankbar ein Stück des Weges mit euch gegangen zu sein: :-D

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